BGH-Entscheidung zur Kundenanlage: Richtungswechsel mit weitreichenden Folgen

28. Juli 2025 □ Dr. Ulrike Gräfe □ Andrea Kleindienst

Mit der Veröffentlichung der Entscheidungsgründe zum Beschluss vom 13. Mai 2025 (Az. EnVR 83/20) hat der Bundesgerichtshof (BGH) eine grundlegende Neubewertung des Begriffs der Kundenanlage vorgenommen. Auf Grundlage der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH, Az. Rs. C-293/23) stellt der BGH klar: Kundenanlagen sind nur dann gegeben, wenn die zugrunde liegende Infrastruktur kein Verteilernetz im Sinne des EU-Rechts darstellt.

Diese Entscheidung hat tiefgreifende Auswirkungen auf viele bestehende und geplante Energieprojekte – insbesondere im Bereich Mieterstrom, Quartiersversorgung, betrieblicher Eigenversorgung und gemeinschaftlich genutzter Infrastruktur für Erneuerbare Energien.

 

Was der BGH entschieden hat

Im zugrunde liegenden Verfahren wollte ein Energieversorgungsunternehmen zwei Blockheizkraftwerke über ein eigenes Leitungssystem mit mehr als 200 Wohneinheiten verbinden und den dort erzeugten Strom direkt an die Mieter verkaufen. Der Netzbetreiber verweigerte den Anschluss und berief sich darauf, dass es sich bei der geplanten Infrastruktur nicht um eine Kundenanlage, sondern um ein reguliertes Verteilernetz handele.

Der BGH folgte dieser Auffassung und bestätigte: Sobald Elektrizität über eine Leitung mit Hoch-, Mittel- oder Niederspannung zum Verkauf an Letztverbraucher oder Großhändler weitergeleitet wird, liegt ein Verteilernetz i. S. v. Art. 2 Nr. 28 der Elektrizitätsbinnenmarktrichtlinie (EU) 2019/944 vor – und keine Kundenanlage.

 

Richtlinienkonforme Auslegung weiterhin möglich

Trotz der klaren Abgrenzung betont der BGH ausdrücklich, dass der Begriff der Kundenanlage weiterhin im Wege einer richtlinienkonformen Auslegung Anwendung finden kann. Damit ist das Schicksal der Kundenanlage nicht endgültig besiegelt, sondern bedarf einer weitergehenden rechtlichen Prüfung im Einzelfall. Konkret eröffnet der BGH einen verbleibenden Anwendungsbereich für Infrastrukturen, die nicht dem Verkauf von Strom, sondern der Eigenversorgung dienen.

Dabei setzt der BGH klare Leitplanken:

▶️ Zulässig sind nur noch Leitungssysteme, die nicht auf Verkauf, sondern auf unentgeltliche Weiterleitung von Strom im Rahmen der Selbstversorgung ausgerichtet sind.

▶️ Beispiele sind Leitungssysteme innerhalb von Wohnungseigentümergemeinschaften oder gemeinsam betriebene Anlagen auf Grundstücken – sofern sie ausschließlich der Eigen- oder gemeinschaftlichen Selbstversorgung dienen.

 

Weitere Ausnahmefälle vom Netzbegriff

Neben der engen Auslegung des Kundenanlagenbegriffs weist der BGH darauf hin, dass weitere Ausnahmen vom Netzbegriff europarechtlich vorgesehen sind, auf die sich Betreiber unter bestimmten Voraussetzungen stützen können:

  • Geschlossene Verteilernetze (§ 110 EnWG / Art. 38 EltRL)
  • Bürgerenergiegemeinschaften (Art. 16 EltRL)
  • Kleine Verbundnetze (Art. 66 EltRL)
  • Isolierte Netze (Art. 66 EltRL)
  • Direktleitungen (Art. 7 EltRL)

 

Diese Ausnahmen bleiben weiterhin möglich – allerdings sind sie teils eng ausgestaltet und an spezifische Anforderungen gebunden. Ihr Vorliegen muss stets im konkreten Einzelfall geprüft werden.

 

Was wird von Gesetzgeber und BNetzA erwartet

Die Entscheidung des BGH markiert eine grundlegende Neubewertung des Kundenanlagenbegriffs. Sie bestätigt die Vorrangstellung des europäischen Netzbegriffs und stellt viele dezentrale Versorgungsmodelle unter regulatorischen Vorbehalt. Dennoch bleibt – bei richtlinienkonformer Auslegung – ein gewisser Raum für unregulierte Strukturen bestehen.

Was jetzt fehlt, ist Klarheit:

▶️ Wann ist ein Netz ein Verteilernetz? Fallen z.B. Hausverteileranlagen unter die Verteilernetze?

▶️ Wann liegt eine zulässige Eigenversorgung vor?

Der BGH hat von Wohnungseigentümern betriebene Erzeugungsanlagen samt Leitungssystemen als Energieanlagen, die der Eigenversorgung dienen, als Kundenanlage eingestuft. Was gilt, wenn Wohnungseigentümer die Wohnung an Dritte vermieten? Entfällt damit nachträglich das Kundenanlagenprivileg

▶️ Was wird aus den Mieterstrommodellen? Welche Lösungen kommen in Betracht?

Die Energiewende im Quartier, in Wohnanlagen und Betrieben braucht rechtssichere Rahmenbedingungen – nicht Unsicherheit über die grundsätzliche Systemgrenze zwischen Netz und Anlage. Der Gesetzgeber ist gefordert, die nationalen Regelungen zu Kundenanlagen und zum Netzbegriff an die unionsrechtlichen Maßstäbe anzupassen. Auch wird allgemein erwartet, dass sich die Bundesnetzagentur (BNetzA) zu dieser richtungsweisenden Entscheidung äußern und Hinweise für die Praxis veröffentlichen wird.

Vor diesem Hintergrund irritiert, dass der am 11. Juli 2025 veröffentlichte Referentenentwurf des BMWE zur Änderung des EnWG keine Anpassung an die aktuelle Rechtsprechung enthält. Die Definition der Kundenanlage bleibt nahezu unverändert, was weder zur EuGH- noch zur BGH-Entscheidung passt – und weitere Unsicherheit erzeugt.

 

Folgen für die Praxis

Die jetzt veröffentlichten Entscheidungsgründe machen klar:

  • Der Anwendungsbereich der Kundenanlage wird deutlich eingeengt.
  • Viele bislang als Kundenanlagen behandelte Infrastrukturen gelten künftig als regulierte Verteilernetze.
  • Deren Betreiber werden damit zu Netzbetreibern – mit umfassenden Pflichten (z. B. Entflechtung, Netzanschluss, Netzentgelte, Messwesen).
  • Letztverbraucher müssen künftig mit zusätzlichen Kosten (Netzentgelte, Umlagen) rechnen.

 

Besonders betroffen sind Projekte in der Wohnungswirtschaft, bei denen bislang Mieterstrom oder gemeinschaftliche Versorgung über einfache Hausverteilerstrukturen realisiert wurde. Auch Quartierslösungen, Kliniknetze, Onsite-PPAs und Bürgerenergieprojekte sind potenziell betroffen.

 

Unternehmen sollten daher zeitnah prüfen:

  • Ob im Einzelfall eine richtlinienkonforme Auslegung zugunsten einer unregulierten Kundenanlage tragfähig ist (z. B. bei unentgeltlicher Eigenversorgung),
  • ob eine Anerkennung als geschlossenes Netz oder Direktleitung in Betracht kommt,
  • oder ob eine Umstellung auf regulierte Strukturen notwendig wird.